Im ersten Kapitel ihres Buchs The Dawn of Everything. A New History of Humanity beschreiben David Wengrow und David Graeber das Aufeinandertreffen französischer Missionare und Verwaltungsbeamter und indianischen Häuptlingen, Rednern und anderen intellektuellen Vertretern. Diese Begegnungen – und die dabei vorgetragene indigene Kritik an französischen, also europäischen Verhältnissen – beschreiben die Autoren als maßgeblichen Einfluss nicht nur für das Bild vom „noblen Wilden“, sondern für die Entwicklung der französischen Aufklärung insgesamt. Auf Seite 46 bemerken sie:
The legal and philosophical question then became: what rights do human beings have simply by dint of being human – that is, what rights could they be said to have ‚naturally‘, even if they existed in a State of Nature, innocent of the teachings of written philosophy and revealed religion, and without codified laws? The matter was hotly debated. We need not linger here on the exact formulae that natural law theorists came up with (suffice to say, they did allow that Americans had natural rights, but ended up justifying their conquest anyway, provided their subsequent treatment was not too violent or oppressive), but what is important, in this context, is that they opened a conceptual door. Writers like Thomas Hobbes, Hugo Grotius or John Locke could skip past the biblical narratives eyeryone used to start with, and begin instead with a question such as: what might humans have been like in a State of Nature, when all they had was their humanity?
Gegen Ende des Buchs schreiben die Autoren auf Seite 498f über Folter, Marter und Körper- und Todesstrafen bei zeitgenössischen Wendat (Huronen) und Franzosen, die jeweils von ausgesuchter Grausamkeit waren, Aber sie machen einen gravierenden Unterschied fest:
As the Quebecois historian Denys Dêlage points out, Wendat who visited France were equally appalled by the tortures exhibited during public punishments and executions, but what struck them as most remarkable is that ,the French whipped, hanged, and put to death men from among themselves‘, rather than external enemies. (…) As a Wendat traveller observed of the French System, anyone – guilty or innocent – might end up being made a public example. Among the Wendat themselves, however, violence was firmly excluded from the realm of family and household.
Was die Besucher aus Amerika kritisieren im neuzeitlichen Frankreich, ist also die Gleichgültigkeit gegenüber allen und dass es keinen Schutz für die eigenen Leute gibt.
An diesen zwei Textstellen lässt sich ablesen, wie sich am Beginn der Neuzeit die Einstellung zu Recht und Gesetz als gesamtgesellschaftliche Instanz gegenüber nicht bürgerlichen Verhältnissen zu ändern beginnt. Zwar herrscht im vorrevolutionären Frankreich noch nicht der Grundsatz, es gelte gleiches Recht für alle, aber immerhin ist es den amerikanischen Beobachtern auffällig, dass ein Urteil jeden treffen kann, eine soziale Abstraktion sich breitzumachen beginnt, die ohne Ansehen der Person richtet. Bei den Wendat war es aber üblich, die Person gefangener Feinde sehr wohl anzusehen und dann über Adoption als Verlust für eigene Tote oder Martertod zu entscheiden. Was also macht die moderne Beziehung zu Recht und Gesetz aus, wenn man sie mit vormodernen Verhältnissen vergleicht?
In der Vormoderne besteht folgender Unterschied (bei genauerem Hinsehen ein Nichtunterschied) zwischen Recht und Gesetz: Recht bedeutet einen Zugriff auf Alimentationen, Dienstleistungen, Unfreie, etcet. Gesetz bedeutet die verhandelte und verhandelbare Form dieser Zugriffe für Freie, die als „Privilege“ oder „Freiheiten“ auftreten. Diese Verhandlung kann sich durchaus entsprechend veränderter Kräfteverhältnisse selbst verändern, etwa durch Erlangung persönlicher Freiheit, Abschüttelung von Tributen und Ähnlichem. Was den Nichtunterschied ausmacht, ist die Einbettung beider in eine göttliche Ordnung, die auch die Gottheiten verpflichtet (Heil, fatum, Heils- oder Berufungsgeschichte, etcet.) und ihren menschlichen Ausdruck in der Frömmigkeit findet.
Dem gegenüber treten Recht und Gesetz in der Moderne auseinander. Was als übergeordnete Instanz des Schicksals, Heils, etcet. die Verbindung von Göttlichkeit und Menschlichkeit zusammenhielt, wird obsolet, wo diese Verbindung nicht mehr existiert. Recht und Gesetz beziehen neue Positionen: Gesetz behält das Verhandelbare und überantwortet es der nun neuen, subjektiven, politischen Auseinandersetzung, während Recht an die Stelle der dem Göttlichen und Menschlichen gleichermaßen gebietenden Instanz tritt, nun allerdings in Form der Ideologie der Wissenschaftlichkeit. Nur kann sich unsere Zeit nicht um die Legitimierung der Zustände durch eine außermenschliche Dimension betrügen, die sie der Gültigkeit von Wissenschaftlichkeit zu Grunde legen muss. Was in der Mathematik Axiome, das sind in der Rechtswissenschaft die „natürlichen Rechtsgrundsätze“.
Das Recht ist also der unsichtbare und nicht manifeste Vermittlungszusammenhang zwischen den Menschen, der für alle gilt, aber bloß als Fall, als Störung der Rechtsanwendung durch einzelne Rechtssubjekte, zur Anwendung kommen und sichtbar werden kann. Und das freischwebend Axiomatische des Rechts wird dadurch sichtbar, dass das für die Störung anzuwendende Gesetz dann ganz andere Folgen zeitigt, jedenfalls für den im Gerichtsstreit Unterlegenen, als dieser in aller Rechtstreue erwartet hatte. Anders als in der religiösen Formation, wo es Spezialisten gab, die darüber wachten, dass die Götter den rechten Anteil am Produzierten erhielten und deren Walten in der Welt den Leuten sicht- und erkennbar machten, dient das Fachpersonal des Modernen Ensembles ausschließlich der Aufrechterhaltung des Rechts als solchem, namentlich der Unantastbarkeit der Axiome der natürlichen Rechtsgrundsätze: Du bist nichts, das Recht ist alles. Als Organe der Rechtspflege kümmern sie sich um die Unantastbarkeit des Rechts als nicht manifester sozialer Zusammenhang, der nur ex negativo dadurch entsteht, dass ein jedes dem nämlichen Recht unterworfen und verpflichtet ist. Wenn auch im Allgemeinen positivistisch als Menschenrecht beschrieben, geht es hier im Kern um die Verewigung von Heteronomie, die aber ideologisch gut verpackt sich nur im Einzelfall des juristischen Falles kenntlich macht als etwas, das nicht dazu da ist, das Rechte oder gar Gerechte zu sein, was den Betroffenen angeht, sondern bloß als Selbstzweck zur Erhaltung des Rechts selbst existiert.
Das Recht, besser: die Rechte religiös verfasster Gemeinschaften, der religiösen Formation ganz allgemein, zeichnen sich dadurch aus, dass sie ohne einen Träger überhaupt nicht vorkommen, geschweige denn existieren können. Das Privileg einer Knappengemeinschaft, die Freiheit einer Stadt, eine Landordnung, all das könnte ohne die Knappen, die Bürgerschaft, die Landstände nicht zur Welt kommen. Dahingegen können etwa die Menschenrechte des Modernen Ensembles im Prinzip existieren, ohne dass Menschen diese Welt bevölkerten. Was übrigens zum Zeitpunkt der ersten Formulierungen von Menschenrechten auch durchaus der Fall war: Frauen, Kinder, arbeitende Klassen und Sklaven, nichteuropäische Völker und Reiche waren, was Menschenrechte betraf, nicht existent.
Das Recht des Modernen Ensembles beruht auf sich selbst und kann des Rechtsträgers getrost entraten. Schon mit seinem Anspruch, es gelte als gleiches für alle, erklärt es sich als für niemanden zuständig, es sei denn, jemand nehme dieses Recht für sich in Anspruch. Aber auch dann muss erst festgestellt werden, ob dieser Anspruch auf bürgerliches Recht zu Recht besteht; das Recht ist also zunächst einmal außer obligo. Dafür kommt die Anwendung und Interpretation der geltenden Gesetze zum Tragen, der Gesetze wiederum, die den Ewigkeitsanspruchs des Rechts nicht verkörpern, eher die konjunkturellen Fluktuationen gesellschaftlicher Entwicklungen. Das wiederum bedeutet, dass das Recht als Realillusion daherkommt. Rechtsprechung ist, selbst wenn ein Rechtsanspruch als zu Recht erkannt wird, in keiner Weise die Herstellung, geschweige denn die Wiederherstellung eines verletzten Rechts. Es ist nur die Verlagerung der Ansprüche auf eine andere Ebene und Wiedergutmachung ist, wenn man die Sache konsequent genug durchdenkt, keine Angelegenheit der Rechtsprechung.
Dies alles macht möglich, dass eine Verletzung von Rechtsnormen nicht mehr nur als persönliche Läsion auftritt, die als solche vor Gericht beklagt wird, wobei durch diese Klage das Recht überhaupt erst konkrete Gestalt bekommt, sondern dass auch der Staat eine Läsion als unpersönlich an sich ziehen kann; es entsteht im Strafrecht das Institut des Offizialdelikts, das heißt, die Staatsanwaltschaft tritt als Klägerin auf, obwohl sie nicht in ihrem Recht verletzt wurde. Oder anders gesagt: Das Gewaltmonopol, die Abtretung der eigenen Bewaffnung der bürgerlichen Person an den Staat, schließt mit ein, dass er Staat nicht nur das Monopol der Gewaltanwendung behauptet, sondern auch das Monopol, angegriffen und verletzt zu werden.
Dieser Rechtsfetischismus ist dem Wissenschaftsfetischismus als Bestandteil der Erklärung des Modernen Ensembles wesensgleich. Wissenschaft und Rechtsanwendung teilen sich das gleiche Erkenntnisverfahren. Im Kern handelt es sich um das Verfahren der Inquisition, das entstand, als die Wahrheitsproduktion (Foucault) durch göttliches Handeln im Wege des Gottesurteils und dessen Vollstreckung, also Gerichtskampf, Wasser- und Feuerproben und was da mehr, die zunehmenden Widersprüche in der gesellschaftlichen Realität der religiösen Formation nicht mehr integrieren konnte und die Verhältnisse delegitimierte. Im Kern ging es um die Frage von Gut und Böse, besser gesagt um die Frage des Vorhandenseins von Bösem in der vom guten Gott geschaffenen Welt und man nahm sich die Märtyrer als Folie, die ihre Treue zum Göttlichen und ihren Widerstand gegen das Böse im Ertragen der Martern bewiesen hatten.
War die Inquisition aber noch im göttlichen Zulassungsprinzip verhaftet und bediente sich der menschlichen Kompetenz nur als Initiator der Hervorbringung göttlicher Wahrheit (was dann auch in der nur sehr geringen Anzahl der Todesopfer der katholischen Inquisition sichtbar wird), zogen die Parvenüs der anbrechenden Moderne die Kompetenz zur Rechtsetzung selbst an sich und zwar durch gewaltsame und gewalttätige Beseitigung von bis dato geltendem Recht im Sinne von wechselseitiger Alimentation auf Grundlage von Verwandtschaft untereinander und mit Gott. Als Gerichtsherren erlangten sie absolute Macht über Leben und Tod ihrer Untertanen ohne jede Verpflichtung gegenüber einer höheren Ordnung, der sie auch mit ihrem eigenen Heil unterworfen gewesen wären. Von daher loderten die Scheiterhaufen nun immer höher, brachte man sich mit der Gerichtsherrschaft durch die anfallenden Gebühren und notwendige Kosten für die Delinquenten auf einfache Weise in den Besitz von deren Vermögen und meistens auch des Vermögens ihrer Verwandten. Auf diese Weise konnte man sich leicht für den Wegfall der Alimentation durch den Kaiser und das Reich entschädigen.
Es ist genau dieser Verlust von Verpflichtung gegenüber den Untertanen, der am Beginn der Gesellschaft des Modernen Ensembles steht. Marx hat dies – und den Verlust von Rechten zu Gunsten der Etablierung von Gesetzen, die nur als Rechtsbruch verstanden werden konnten – in seinem Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals (Das Kapital, Bd. I, Siebenter Abschnitt, S. 741 – 791) beschrieben. Ergänzend muss angefügt werden, dass dieser Prozess nicht historisch abgeschlossen sich auf England am Beginn der Neuzeit beschränkt, sondern nach wie vor zu Gange und wirksam ist (vgl. auch Gerstenberger S. 578ff). Ebenso muss verdeutlicht werden, dass der Verlust am Eigentum der Produktionsmittel auch den Landadel trifft, der nun nicht mehr personal über seine lebendigen Bauern verfügt, sondern die er, um sie unter neuen Verhältnissen zu verwenden, nur als anonyme Masse proletarischer Lohnarbeiter erkennen muss.
Mit dem Wegfall jeder Scheu vor dem beseelten Lebendigen begann die Aufstiegsgeschichte einer neuen Vernunft, die ihre Umwelt als Ansammlung toter Materie betrachtete und sich jedes Recht anmaßte, diese nun neu zu ordnen und für die gewünschten Ziele und Ergebnisse möglichst effizient anzuordnen. Und was in der Wissenschaft mit Bacons Credo ausgesprochen wurde, nämlich „die Natur auf die Folter zu spannen, um ihr ihre Geheimnisse zu entreißen“, führte beim Recht dazu, dass von nun an positive Normen formuliert wurden, die durch ein „wenn …, dann“ Rechtsverletzung und Folge in eins setzten und so das inquisitorischen Erkenntnisverfahren, nun unter Obwaltung rationalen Verstandes, fortsetzten, indem immer schon feststeht, dass herauskommt, was herauskommen soll. Und hier liegt auch der wirkliche Grund für abstrakte Gleichheit, denn hier ist zur Anwendung der Norm Voraussetzung, dass sie gleichermaßen ein jedes betrifft und von einem jeden gleichermaßen zu beachten ist. Die Grauenhaftigkeit des gleichen Rechts für alle betrat so die Bühne des Lebens. Und wie in der Wissenschaft das Experiment das in Aussicht genommene Ergebnis in Theorie und Anordnung gleich in sich trägt, ist es im Recht die positive Norm, die als Gesetz den Verstoß gegen das Recht oder seine Störung theoretisch formuliert, die Anordnung des Sachverhalts beschreibt und die Sanktion benennt.
Und es ist auch das Gewalttätige und Gewaltsame, das in Wissenschaft und Recht in bis dato ungeheurer Wucht und Ausweglosigkeit das Objekt (im Sinne von gesellschaftlich behandelt werden) trifft. Dem wissenschaftlichen Tun sind weder im Hinblick ihrer Gegenstände, noch was die Auswirkungen auf lebendige Menschen angeht, Grenzen gesetzt. Und die Vernichtung am Lebendigen und den Lebenden besteht nicht nur im Offenbaren, also in tödlichen Kriegswaffen, sondern auch in den vielen eingeführten wissenschaftlichen Verfahren zur Entgesellschaftlichung und Entmenschlichung. Im Gleichklang hierzu das Recht, das dies alles nicht sanktioniert, sondern als unhintergehbare Freiheit aufs äußerste beschützt und jederzeit, wenn es der Herrschaft dient, die zur Norm passenden Tatbestände auf die Weise gerichtlich feststellen lässt, dass der vermeintliche Störer oder Verletzer der maximalen Sanktion anheimfällt.
Dies führt im Folgenden zur Frage nach dem Rechtssubjekt und -objekt, besonders aber zur Rechtlosigkeit durch Exklusion im Wege des Feindstrafrechts. Solange das Recht in die Lage versetzt wird, des konkreten Trägers zu entbehren, solange kann es schlicht für sich existieren und nur an sich selbst gültig sein. Wer aber ist dann Subjekt beziehungsweise Objekt des Rechts? Wir müssen hier zwei Begriffe einbringen, die eng miteinander verknüpft sind: den der primordialen Rechtlosigkeit und den der Verfassung. Primordiale Rechtlosigkeit bedeute, dass die hinkünftigen Subjekte, die Rechte für sich in Anspruch nehmen, diese gegen den vorbürgerlichen Souverän formulieren und in einem Akt politischer Emanzipation des Bürgertums durchsetzen. Davor waren diese Subjekte im modernen Sinn rechtlos. Die Rechte, die sie formulierten, existierten davor nicht: Recht auf Versammlungsfreiheit, Redefreiheit, Privateigentum, auf Streben nach Glück gab es als formuliertes Recht nicht. Und fürderhin muss, wer sich durch Genuss dieser Rechte in die bürgerliche Gesellschaft einordnen will, einen ähnlichen Emanzipationsakt durchlaufen. Das gilt für Frauen, die Arbeiterklassen des Proletariats und für durch Kolonialismus oder Krieg unterdrückte Völker. Die Form aber, die das Recht für die Anerkennung dieser Emanzipation zur Verfügung stellt, ist die des Nationalstaats.
Gerstenberger dazu in Markt und Gewalt:
Mit kaum einem Exportgut konnten weltweit ebenso große Erfolge eingefahren werden wie mit der Verbreitung der politischen Form Nationalstaat. Entstanden ist sie im Zuge der theoretischen und praktischen Kritik an den im europäischen Ancien Régime verbreiteten Formen personaler Herrschaft. Die Abschaffung aller Privilegien, die zu Herrschaft und Aneignung berechtigten, machten die Kompetenzen der Herrschaft zu niemandes Eigentum und insoweit zum Eigentum aller. (…) Als Kolonien unabhängig wurden, war ihnen dies nur in den international durchgesetzten Strukturen möglich. Mit der internationalen Anerkennung ihrer Souveränität – seit Gründung der Vereinten Nationen geschieht dies durch die Verleihung von Sitz und Stimme in der Generalversammlung dieser Organisation – wird der Charakter von Staatsgewalt als Eigentum einer Nation bestätigt.
Diese Staatsgewalt, die ebenso bedingungslos vorausgesetzt wird wie das Recht, findet ihren Ausdruck in der Verfassung. Diese wiederum steht sowohl für Rechtmäßigkeit als auch Gesetzmäßigkeit und bindet die Staatsbürger sowohl als Rechtssubjekt wie auch als -objekt mit Rechten und Pflichten. Ein Entkommen der Staatsbürgerschaft ist dabei nicht vorgesehen, es sei denn, sie wird explizit sistiert. Das mag mit dem Verlust des aktiven oder passiven Wahlrechts beginnen, kann aber bis zum Ausschluss aus dem bürgerlichen Leben mit Todesfolge gehen; selbstverständlich gesetzlich geregelt …
Andererseits wird in die Rechtsförmigkeit alles mögliche eingeschlossen. So etwa klagt ein österreichischer Multiple-Sklerose-Patient vor dem Europäischen Gerichtshof eine klimafreundliche Politik Österreichs ein, weil sich durch die Erderwärmung seine Therapie- und Pflegeaussichten verschlechtern (https://wien.orf.at/stories/3131992/). Ebenso hat das deutsche Verfassungsgericht in Karlsruhe befunden, dass die Klimakrise unverhältnismäßig zu Lasten der jüngeren Generation gehe und die deutsche Regierung deswegen wesentlich mehr Anstrengungen für den Klimaschutz unternehmen müsse (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html).
Das klagende Subjekt muss dabei nicht einmal ein menschliches Individuum sein. In Neuseeland hat jüngst ein Fluss diese subjektiv klagbaren Rechte erhalten, weil er von den Maori für heilig, personal und einen Vorfahren gehalten wird (https://www.derstandard.at/story/2000054266825/neuseeland-anerkennt-fluss-zur-juristischen-person-um-ihn-zu-schuetzen). Der Fluss kann also Rechtsbeistand erhalten und es kann sich jemand zu seiner klagenden Vertretung bereitfinden, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Ähnliches geschieht, wenn sich Leute für die Anwendung der Menschenrechte auf Primaten einsetzen. Ist es im einen Fall der magische Fetisch der Verwandtschaft von Fluss und Menschheit, der in Anschlag gebracht wird, ist es dann wiederum der wissenschaftliche Fetisch einer Verwandtschaft von Primaten und Menschheit, der die Argumentation vor Gericht stützen soll.
Solch ein Vorgehen, wie oben zitiert, ist nicht unbedingt als Lächerlichkeit abzutun, die bürgerliches Denken und Fetischverhalten zur Kenntlichkeit ad absurdum führt, sondern dahinter steht eine Sehnsucht, die aus der Atomisierung, Vereinzelung und Subjektivierung der Leute sich wegträumt zu einer Gemeinschaftlichkeit, die heute nicht mehr gilt, aber deren Erinnerung nicht zur Gänze vernichtet werden konnte.
Diese Erinnerung an eine Gemeinschaftlichkeit schlägt sich in einem „Wir“ nieder, das ein Urteil eines Gerichts erfahren hat, welches einen Verstoß gegen ein Gesetz, und sei es ein so hohes wie ein Verfassungs- oder Grundgesetz, zu Gunsten der Klagenden festgestellt hat; sie schlägt sich aber auch in der Freude nieder, das „Recht bleibt, was Recht ist“. Nur das Gesetz spricht eine andere Sprache.
Während das Recht eine ideologische Schranke darstellt, betont das Gesetz eine empirische Schranke. Wo das Recht mit Ethik argumentiert, argumentiert das Gesetz mit der unabwendbaren Vernunft. Und wo Ethik ein Residuum von Gemeinschaftlichkeit zu erhalten sucht, betont das Gesetz die Anwendbarkeit im Einzelfall. Es ist diese Kasuistik, die eine Unverletzbarkeit der Gesetze postulieren kann, wie unterschiedlich sie auch in den jeweiligen Fällen angewandt werden, während das Recht zwar „gesprochen“ wird, aber in seiner Anwendung notgedrungen vor dem Kasus scheitern muss. Erfolgreich ist das Recht nur insofern, als es das Gesetz verteidigt.
So ist also ein Urteil eines Höchstgerichts, das ein Recht bestätigt, beispielsweise das auf Versammlungsfreiheit, das auf dem menschlichen, pflanzlichen und tierischen Leben angepasste klimatische Verhältnisse oder das auf dunkle Nächte (Nachrichtensendung des ORF OE1-Morgenjournal vom 26. Juni 2023), sofort in sich beschränkt insofern, als es die Gewährleistung dieses erklagten Rechts wieder auf die Legislative, also die Gesetzemacherei verweist. Und dort zeigt sich ohnehin bloß, dass Rechtsverhältnisse nichts anderes sind als Machtverhältnisse.
Solange also Gesetze, deren Zustandekommen wie auch deren Anwendung und Sanktionierung Sache der Legislative, der Exekutive und der Judikatur sind, Rechte aber in der Gewaltenteilung der Bürgerlichen Geselligkeit nirgendwo ihren institutionalisierten Platz finden können außer im ideologischen Konsens einer Öffentlichkeit, die ihrerseits nur affirmativ, aber konstitutiv ohne verankerte Institutionen ist, ausgedrückt in der Verfassung, solange wird das Recht dem Gesetz nachhinken, wiewohl es Priorität und Vortritt verlangt und scheinbar gewährt erhält. Solange sind wir auch mit der Situation vertraut, dass Oberste Gerichtshöfe uns darin Recht geben, dass wir zu Unrecht in unseren Rechten beschnitten wurden, womit auch gegen Gesetze verstoßen wurde. Diese Vertrautheit von Grund auf in Frage zu stellen, ist Gebot der Stunde: nicht, um das Recht über das Gesetz zu stellen, sondern um mit dem Gesetz auch das Recht abzuschaffen und andere Formen garantierten Zusammenlebens zu suchen und zu erproben.
David Wengrow, David Graeber: The Dawn of Everything. A New History of Mankind. Macmillan 2021
Heide Gerstenberger: Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus. Westfälisches Dampfboot2 2018
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band 23. Dietz Verlag 1968