Die Gretchenfrage der Geschichte: Wie war’s denn jetzt wirklich?

Das Werk Heide Gerstenbergers ist vor allem von einer profunden Beschäftigung mit der bürgerlichen Gesellschaft geprägt. In den lesenswerten Bänden Zur politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft. Die historischen Bedingungen ihrer Konstitution in den USA (1973) und Die subjektlose Gewalt (1990, 2006) hat sie ihre Vorgehensweise dargestellt, nämlich die Überprüfung am empirischen Material, ob denn Annahmen einer historischen Gesetzmäßigkeit zulässig seien oder ob nicht vielmehr die Unterschiede in den verschiedenen Entwicklungen bürgerlicher Staaten und Gesellschaften kontrafaktisch zu wenig beachtet oder als Ausnahmen oder Abweichungen behandelt würden. Dies mag einer präferierten ideologischen Ausrichtung geschuldet sein, die aber im schlimmsten Fall zu Geschichtsklitterung führen wird. Jedenfalls hat Gerstenberger an den sehr differenten Geschichten der Herausbildung der bürgerlichen Staaten Englands und Frankreichs (und auch der Vereinigten Staaten Amerikas, die im Gegensatz zu anderen Staaten ohne Nation auszukommen scheinen) das Verhältnis zwischen allgemeinen, kontinentalen (und auch globalen) Verbreiterungen des bürgerlichen Horizonts und den einzelnen kontingenten Fallgeschichten herausgearbeitet (man möchte sagen ziseliert) und dieses Verhältnis zu dem Boden gemacht, auf dem sie ihre wissenschaftliche Arbeit und politische Diskussion entfaltet.

Es sind dabei die Begriffe Kapitalismus, bürgerlicher Staat, bürgerliche Gesellschaft, die sie gegeneinander abwiegt und zueinander in Beziehung setzt. Dabei wird schnell klar, dass die Welt mit eindimensionaler Betrachtung nicht erfasst werden kann. So unterscheidet Gerstenberger zwischen bürgerlichen kapitalistischen Staaten und anderen kapitalistischen Staaten. Und die Entstehung bürgerlicher Staaten und kapitalistischer Produktionsweisen muss auch nicht Hand in Hand gehen: In England entstand der Kapitalismus, bevor der bürgerliche Staat ins Leben kam, in Frankreich wurde ein bürgerlicher Staat ins Leben gerufen, bevor sich die Gesellschaft kapitalisierte.

In dem Band Markt und Gewalt macht sich Gerstenberger wieder daran, theoretische und ideologische Gewissheiten oder wenigstens Diskursgrundlagen auf den Prüfstand der überlieferten Quellen zu legen. Der Untertitel, der den „historischen Kapitalismus“ beschwört, weist schon in die Richtung der Untersuchung. Statt historisch könnte man auch empirisch sagen, wenn da nicht eben die geschichtliche, diachrone Dimension wäre, die Gerstenberger ins Spiel bringt. Mit historischem Kapitalismus meint sie die Entwicklung von den europäischen, teils sogar noch vorbürgerlichen Verhältnissen hin zu einem globalisierten Kapitalismus, der sich nicht der Mühe unterzogen hat, die französischen, englischen, amerikanischen Vorbilder zur Gänze nachzuvollziehen, aber sich in den Horizont bürgerlicher Gesellschaftlichkeit eingliedern mag, um welchen Profit auch immer daraus zu schlagen.

„Markt und Gewalt“ wiederum deutet eine Widersprüchlichkeit an, die entsprechend bürgerlicher und kapitalistischer Legitimationsideologie recht eigentlich aufgehoben sein sollte: Wo der Markt herrscht, gibt es keine Gewalt …

Damit aufzuräumen, ist das Unterfangen Gerstenbergers in dieser Untersuchung und das ist auch – so viel kann gesagt werden – durchaus gelungen. Allerdings muss man sich durch eine Fülle von Material hindurchlesen, das sich über die letzten drei Jahrhunderte und über alle bewohnten Kontinente erstreckt. So beginnen die ersten Kapitel sofort mit Verweisen auf direkte Gewalt, die sich noch mit vorbürgerlichen Rechtfertigungen vollzieht, aber schon die Globalisierung unter bürgerlichen Verhältnissen erahnen lässt. Als Beispiel führt sie den geregelten Raub an, vor allem auf den Meeren durch Kaperbriefe, sowie den Sklavenhandel. Dazu möchte ich eine Einlassung machen, bevor ich mit der Besprechung von Gerstenbergers Darlegung fortfahre.

Sklaverei ordne ich vorbürgerlichen, also in meiner Terminologie1 der religiösen Gesellschaftsformation zu, die sich von der bürgerlichen, in meiner Terminologie wissenschaftlichen Formation dadurch unterscheidet, dass sie die gesellschaftliche Schichtung nicht mehr entlang personaler Freiheit und Unfreiheit vornimmt. Hier finden wir eine Wasserscheide bei der Einordnung gesellschaftlicher Formationen vor, auch wenn sich die religiöse Formation in manchen, teils christlichen, Ausformungen gegen Sklaverei aussprechen will: So galt es als christliche Tugend, Gefangene zu befreien. Das bezog sich natürlich auf christliche Gefangene und Versklavte – Lösegeld war aber in abend- wie morgenländischen, christlichen wie muslimischen Reichen gesellschaftlich akzeptiertes Einkommen. So garantierte auch die Bulle des Papsts Nikolaus V. 1455 den Spaniern und Portugiesen das Recht, in ihrem jeweils zugewiesenen Einflussbereich die Ungläubigen zu versklaven.

Ich will mit dieser Einlassung behaupten, dass es durchaus im ideologischen, legitimatorischen Interesse einer sich gegen die religiöse Erklärung neu formierenden Gesellschaftsepoche lag, Sklaverei zu verfemen. Dass sie dabei ebenso auf religiöse Argumentation zurückgriff, auf die alttestamentlichen Berichte des Auszugs Israels aus Ägypten beispielsweise, deutet auf ein Nach- und Weiterwirken gesellschaftlich-legitimatorischer Argumentation aus vorbürgerlichen Verhältnissen hin, die aber im neuen Alltagsleben nicht so schnell auszumerzen waren. Gerstenberger übergeht das dann so: Wie im Untertitel angedeutet („Funktionsweise“) geht es ihr mehr um das Funktionale: Was funktioniert, ist, was beobachtbar ist auf Grund seiner Existenz. Und es existiert, weil es keinen funktionalen Widerspruch gibt, mag da auch ein ideologischer oder theoretischer Widerspruch formuliert werden oder worden sein. Genau das ist Gerstenbergers Einstieg in die historische Diskussion. Dazu führt sie auch zwei Begriffe ein, mit denen sie in Hinkunft arbeiten wird und an denen ihre Untersuchung sich messen wird lassen müssen. Einer ist der historische Kapitalismus, den wir schon angesprochen haben. Der andere ist die „entgrenzten Ausbeutung“, der schon ganz am Anfang der Untersuchung steht, gemeinsam mit dem Begriff der „direkten Gewalt“.

Direkte Gewalt vorzufinden widerspricht den Versprechungen der bürgerlichen Lebens- und der kapitalistischen Produktionsweise. In diesem ersten Kapitel, in dem Gerstenberger ihre Herangehensweise und die von ihr verwendeten Begriffe und untersuchten Phänomene vorstellt, schreibt sie dann (S. 17f):
Im Zusammenhang dieser Untersuchung wird unter Gewalt vor allem „entgrenzte Ausbeutung“ verstanden. Der Terminus ist theoretische Aussage. Ausbeutung wird als grundlegendes Merkmal des Kapitalismus verstanden. „Entgrenzte“ Ausbeutung ist deshalb eine Praxis, die den in kapitalistischen Gesellschaften durchgesetzten Normen widerspricht. Sie kann, diese Gewissheit liegt der vorliegenden Untersuchung zu Grunde, auch in fortdauernden kapitalistischen Verhältnissen erfolgreich bekämpft werden. Entgrenzte Ausbeutung ist nicht nur ein pejorativer, sondern auch durch und durch normativer Begriff. Ein Teil seiner Inhalte ist in Strafgesetzen, Arbeitsgesetzen und Arbeitsschutzgesetzen niedergelegt. Derartige Fixierungen von Grenzen der Ausbeutung, sei es das Verbot der Sklaverei oder der Kinderarbeit, sei es die Garantie des Rechts auf Versammlungsfreiheit oder auf das Recht der Kündigung, waren das Resultat der theoretischen und praktischen Kritik an den jeweils aktuellen Praktiken der Ausbeutung. Und es ist die aktuelle theoretische und praktische Kritik an Praktiken der Ausbeutung, welche die weiteren Inhalte des Terminus „entgrenzte Ausbeutung“ bestimmen. Sie sind nationaler und internationaler öffentlicher Kritik entnommen.

Um dieses Verhältnis zwischen Gewalt der entgrenzten Ausbeutung und Normierung der Ausbeutung dreht sich dieses Buch. Der Terminus „Markt“ im Titel mag dabei für die – recht eigentlich ideologische und legitimatorische – Behauptung stehen, dass direkte Gewalt zur Abpressung von Mehrprodukt in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr vorkomme, nicht mehr nötig und vor allem kontraproduktiv sei. Und ihre Betonung der Funktionsweise des historischen Kapitalismus weist deutlich darauf hin, dass in der Geschichte des Kapitalismus, seiner Entstehung, Durchsetzung und Globalisierung sein Funktionieren nicht immer an das Vertragsrecht gebunden war. Was also den Kapitalismus ausmacht, ist weniger das Abschließen von Verträgen, sondern die Konkurrenz und die Überführung von Gegenständen, aber auch sozialen Beziehungen in Waren. Markt ist also keine ökonomische Größe, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, zu dessen Durchsetzung Gewalt vonnöten ist.

Nach dem kurzen Einführungskapitel beginnt nun die Reise durch den historischen Kapitalismus, die uns durch weitere sieben Kapitel mitnimmt bis zu einer Schlussbemerkung zu Markt und Gewalt (S. 669ff), in der sie resümiert:
Das Erfordernis, die Resultate der Funktionsweise von Märkten zu rechtfertigen, entstand erst, als von zeitgenössischen Obrigkeiten gefordert wurde, Märkte ihren eigenen Funktionsmechanismen zu überlassen. Solange Obrigkeiten Preise für Lebensmittel und Löhne festsetzten, wirtschaftlich relevante Privilegien verliehen und privilegierten Vereinigungen das Recht zusprachen, ihrerseits wirtschaftliche Verhaltensvorschriften zu erlassen, traf Kritik an materiellen Zuständen die jeweils zuständigen Obrigkeiten. (…) Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ist Kritik an der herrschaftlichen Regulierung von Märkten gewachsen. In bürgerlichen Revolutionen wurde sie praktisch umgesetzt. Von da an waren Märkte, auch wenn Regierungen äußere Rahmenbedingungen setzten, gewissermaßen auf sich selbst gestellt. Und das galt auch im Hinblick auf ihre Legitimation. Wer propagierte, dass auf die die obrigkeitliche Regulierung wirtschaftlicher Transaktionen verzichtet werde, musste behaupten, dass Konkurrenz ihre eigene Legitimation in sich trägt.
Und weiter heißt es (a. a. O.):
(…) es sind Tauschverhältnisse, die bei der Beschaffung von Lebensmitteln ausagiert werden. Und jedem derartigen Tauschverhältnis liegt – unausgesprochen – ein Vertrag zwischen Rechtssubjekten zu Grunde. Seine Basis (…) ist die Schnittstelle zwischen der zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort vorhandenen Interessen der Beteiligten. (…) Kritikerinnen und Kritiker des Kapitalismus verweisen darauf, dass Arbeitsverträge nicht nur die gegensätzlichen Interessen der Beteiligten auf Dauer stellen, sondern auch die Ungleichheit in den Möglichkeiten, eigene Interessen zu realisieren.

Um diese Interessen (Interessen von Klassengegnern) geht es in Gerstenbergers Buch und um deren Verhandlung und Durchsetzung im historischen Kapitalismus. Die sieben Kapitel, in denen sie ihr geschichtliches Material ausbreitet und es in Widerspruch zu legitimatorischen und ideologischen Behauptungen bringt und diese an jenem misst, sind an mehreren Stellen von insgesamt zehn theoretischen Zwischenbemerkungen durchbrochen, die den jeweils bisherigen Stand der Untersuchung zusammenfassen. Das heißt jetzt nicht, dass man sich auf die Lektüre dieser gesondert ausgewiesenen Einlassungen beschränken kann, schon gar nicht soll, ginge man dann doch der sehr umfangreichen und auch in ihrer Darlegung immer wieder überraschenden Materialfülle verlustig. Doch dieser Aufbau des Buchs macht es auch, sagen wir es mit einem zeitgenössischen Ausdruck, sehr benutzerfreundlich, ohne dabei in populärwissenschaftliche Leichtfüßigkeit zu verfallen.

Die Kapitel beginnen mit einer Beschreibung der Durchsetzung von bewaffnetem Welthandel, vor allem auf den Meeren, durch europäische Handelsunternehmen, die sich zueinander schon konkurrent verhalten und unter der Ägide ihrer jeweiligen Herrscherhäuser sich der Aneignung von Rohstoffen und Reichtümern durch Raub an der nicht europäischen Bevölkerung widmen, aber auch durch legalisierte und protektionierte Kaperfahrten gegen die jeweiligen europäischen Konkurrenten. Das ist aber noch keine nationalstaatliche Konkurrenz auf dem Weltmarkt, eher ein Beutezug mit königlichen Beteiligungen. In der Folge der Darstellung geht es um die Metropolländer auf ihrem Weg, der kapitalistische Akkumulation möglich machen wird. Noch immer bewegen wir uns auf dem Boden dessen, das Gerstenberger Ancien Régime nennt. Aber diese Regimes sind schon territorialstaatlich organisiert und verfügen über so etwas wie Infrastruktur im moderneren Sinn, die es nun zu schützen galt. Diesen Schutz bringt Gerstenberger mit der Freisetzung von Konkurrenz auf dem festen Land (Bekämpfung der Wegelagerei und des Straßenraubs) und auf der hohen See zusammen (Bekämpfung der Piraterie, die eben noch durch anerkannte Kaperbriefe legalisiert oder wenigstens mit diesem Anschein versehen war). Es folgen Verweise darauf, wie sich das Kaufmannskapital zum Handelskapital des Industriekapitalismus entwickelt, nämlich durch die Abschaffung der Privilegien, die vordem die Händler, ihre Routen und Waren schützten (S. 63):
Seit Industrieunternehmen potenziell in der Lage sind, ihre Zulieferung und ihren Absatz selbst zu organisieren, konkurrieren die Preise von Handelsunternehmen mit den Kosten, die Industrieunternehmen für die eventuell selbst organisierten Handelstätigkeiten kalkulieren. Diese Konkurrenz macht aus Handelskapital ein Kapital unter anderen Kapitalen.

Weiter geht es mit der Beschreibung der Freisetzung von Arbeitsverhältnissen aus politischer Zwangsgewalt. Wir bewegen uns noch immer in den Metropolstaaten England, Frankreich, Deutschland (resp. Preußen) und den USA und im frühen 19. Jahrhundert (erst ab dem dritten Drittel dieses Jahrhunderts kann so etwas wie freie Arbeit als verallgemeinert angesehen werden). Unfreie Arbeit wird hier beschrieben wie Sklaverei in den USA oder das Züchtigungsrecht für Domestiken in Preußen. Zusammenfassend heißt es dann in der Zweiten theoretischen Zwischenbemerkung (S. 121):
Im Kapitalismus ist ein historisch nie zuvor da gewesenes Potenzial an Produktivität angelegt. Es erwächst aus der systematischen Organisation von Arbeitsteilung sowie aus der Kombination von lebendiger Arbeitskraft mit Technologie: Das Produktivitätspotenzial solcherart organisierter Produktion kann aber nur voll ausgeschöpft werden, wenn die Eigentümer der Produktionsmittel beziehungsweise ihre Beauftragten Kommandogewalt über die eingesetzte Arbeitskraft besitzen: Präziser formuliert: Kapitalistische Produktion erfordert abhängige Arbeitskräfte. Dass diese „frei“ seien, in ihrem eigenen Namen (oder auch in dem ihrer Frauen und Kinder) einen Arbeitsvertrag abzuschließen und diesen auch wieder zu beenden, ist dagegen kein ökonomisches Erfordernis für den profitablen Einsatz von Kapital.

Hier zeigt sich Gerstenbergers Ausgangspunkt und Fragestellung: Wenn die Freisetzung der Arbeit, die „freie Arbeit“ kein zwingendes, von der kapitalistischen politischen Ökonomie erzwungenes Erfordernis ist, wie und warum kommt es dann zu freier Arbeit? Bevor diese Frage beantwortet wird, macht noch Gerstenberger einen Parforceritt durch den historischen Kapitalismus von seiner kolonialen Ausbreitung bis zur „Domestizierung des Industriekapitalismus in den Metropolstaaten“. Domestizierung ist aber nicht Zähmung. Das wird an einem Abschnitt des siebenten Kapitels deutlich, den sie Das politische Ende der „Dreißig Glorreichen“ getauft hat. Hier geht es um den domestizierten Kapitalismus vor der Globalisierung (wohl der dritten nach der Globalisierung des Handels und der Verkehrswege und der Globalisierung der Maßeinheiten von Zeit, Raum und Tausch, G. W.) in den dreißig Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Anfang vom Ende des Kalten Kriegs und den ersten großen ökonomischen Krisen in den Metropolen. Hier schreibt sie (S. 427f):
In öffentlichen Diskursen wurden auch bisher gängige Praktiken direkter Gewalt angeprangert, vereinzelt wurden diese Praktiken kriminalisiert. Nicht überall, aber doch vielerorts wurden Prügelstrafen in Schulen und gewalttätige häusliche Erziehungspraktiken verboten, schließlich auch die Vergewaltigung in der Ehe. Was die Praxis direkter Gewalt in Arbeitsverhältnissen anlangt, so bewirkte die Situation der Vollbeschäftigung mehr, als es Strafgesetzen je möglich gewesen war. (…) Diese Entwicklung war jedoch nicht flächendeckend. (…) In den USA war die Praxis illegaler Gewalt durch die Polizei in den 1960er Jahren so präsent, dass der Sprecher einer Stadt im Norden der USA bei einer vom Weißen Haus veranstalteten Tagung 1966 formulierte: „Ich muss leider sagen, dass manche Menschen die Polizei als Besatzungsarmee ansehen, als Feind.“
Jedenfalls hat Gerstenberger in den letzten Kapiteln den Bogen ihrer Argumentation weit über die Arbeitsverhältnisse hinaus gespannt. Dies ist nur logisch, wenn sie in freien Arbeitsverhältnissen kein ökonomisches Erfordernis sieht, sondern eher einen Ausdruck von Interessensabgleichen, die man vielleicht als Klassenkampf ins Spiel bringen kann, aber auch als staatliche Intervention entsprechend aufgebautem politischen Druck, die zu Regulierungen in Arbeitsverhältnissen führen kann. Doch nicht nur um Arbeitsverhältnisse geht es ihr, wenn sie „Markt und Gewalt“ und die „Funktionsweise des historischen Kapitalismus“ beschreibt, wie wir weiter oben gesehen haben und worauf weiter unten noch rekurriert wird.

Im achten Kapitel Markt und Gewalt im globalisierten Kapitalismus kommt sie noch einmal auf den Begriff der entgrenzten Ausbeutung zurück und bezieht ihn auf „Arbeits“verhältnisse, die durch Willkür, verweigerte Lohnzahlung und unregulierte Beziehungen zwischen Arbeit„gebern“ und Arbeit„nehmern“, wie Gerstenberger sie absichtsvoll nennt, gekennzeichnet sind. Das umfasst erzwungene Sexarbeit, erzwungene Domestikentätigkeit, Kinderarbeit und Kindersklaverei und derlei, umfasst aber auch die Ausbeutung der „Natur“, besser gesagt: die Vernichtung der Lebensgrundlagen autochthoner, indigener oder sonst schon lang ansässiger Bevölkerung. Es geht also um den Handel mit Müll- und Giftstoffen (beziehungsweise die Auslagerung deren Deponien aus den Metropolen in die „Peripherie“ und dort deren Verwertung aus dritter oder vierter Hand), es geht um Organhandel, es geht um „landgrabbing“. Es geht, wie sie es nennt, um eine „neue politische Ökonomie gewaltförmiger Kriminalität“. Und dabei kommt sie noch einmal auf den Begriff der entgrenzten Ausbeutung zurück.

Dabei geht es natürlich auch um die Frage, wo diese Kriminalität – als offensichtlichster Ausdruck von Gewalt, aber auch als möglicherweise ausgelagerte Sicherheit – angesiedelt ist. In einem Unterkapitel ab Seite 596 (Zum Exempel: Ölförderung in Nigeria) beschreibt sie das Verhältnis zwischen dem verwüstenden Konzern der Rohstoffextraktion (in diesem Fall Shell), dem Staat (in diesen Fall Nigeria) und der indigenen Bevölkerung, der durch Raubbau das Überleben verunmöglicht wird (in diesem Fall vertreten durch das MOSOP, das Movement for the Survival of the Ogoni People). Dabei geht es natürlich auch um die Definitionshoheit, wer wen als kriminell bezeichnet und behandelt: Gerstenberger dazu (S. 596):
Manche Umstände der Ölproduktion in Nigeria wurden international bekannt, als neun Männer vom Stamme der Ogoni 1994 von einem Sondergericht zum Tod verurteilt wurden. Im November 1995 wurden sie gehenkt.
Offensichtlich wurden sie als kriminell angesehen. Aber Gerstenberger betont auch, dass diese Rechtlichkeit, die durch Staatlichkeit unterfuttert wird, allgemein und auch international akzeptiert und als Folie jedes gesellschaftlichen Verhaltens angesehen wird. Wieder Gerstenberger in einem etwas düsteren Resümee:
Mit kaum einem Exportgut konnten weltweit ebenso große Erfolge erzielt werden wie mit der Verbreitung der politischen Form Nationalstaat. Entstanden ist sie im Zug der theoretischen praktischen Kritik an den im europäischen Ancien Régime verbreiteten Formen personaler Herrschaft. Die Abschaffung aller Privilegien, die zu Herrschaft und Aneignung berechtigten, machten die Kompetenzen der Herrschaft zu niemandes Eigentum und insoweit zum Eigentum aller. (…) Als Kolonien unabhängig wurden, war ihnen dies nur in den international gesetzten Strukturen möglich. Mit der internationalen Anerkennung (…) wird der Charakter von Staatsgewalt als Eigentum einer Nation bestätigt.
Diese Anerkennung – eines fait accompli – wird für Gerstenberger bedeutsam, wenn sie die Frage nach Regulierungen der Gewalt stellt. Zunächst taucht die Frage der Gewalt ja gebunden an die Form des Nationalstaats auf – bei den sozialen Verhältnissen der Metropolstaaten in ihrem Ringen um Arbeitsgesetzgebung im 19. Jahrhundert ebenso wie auch in den Staaten, die sich im 20. aus kolonialer Abhängigkeit emanzipiert haben. Jedenfalls ist Gerstenbergers Antwort auf die Frage nach Veränderungen der gewaltsamen Verhältnisse an die Nationalstaatlichkeit gebunden sowie an die Stärke und Macht der jeweiligen Kontrahenten. Dies wiederum unterliegt wohl gesellschaftlichen und auch ökonomischen Konjunkturen. Jedenfalls lässt es Gerstenberger in einer Fußnote auf S. 607 erklären:
Erläuternd verweist Roll auf die nigerianische Behörde gegen Menschenhandel und den Handel mit Drogen. In diesem konkreten Fall war es die Ehefrau des 1999 in sein Amt berufenen Vizepräsidenten Abubakr, die – zusammen mit anderen Ehefrauen hochgestellter Politiker – daran ging, den Handel mit Kindern und Frauen in Nigeria zu bekämpfen. (…) Im konkreten Fall erreichte die Kampagne nicht nur, dass 2003 ein Gesetz beschlossen wurde, welches den Handel mit Frauen und Kindern unter Strafe stellte, sondern auch, dass dieses Gesetz 2005 verschärft und ein Fonds zur Unterstützung der Opfer eingebracht wurde.

Ähnlich argumentiert sie, wenn sie auch für das 19. Jahrhundert in Anschlag bringt, dass Veränderungen in den Metropolen nicht ökonomischen Erfordernissen geschweige denn historischen Gesetzmäßigkeiten geschuldet wären, sondern sozialen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf dem neuen Boden des Nationalstaats – in den als vollwertig geachtete citoyens und citoyennes einzutreten, wie ich anmerken möchte, das Ziel jener Bestrebungen war, das späterhin als Emanzipation geadelt und sogar mit den rhetorischen Weihen revolutionärer Semantik versehen wurde, den Boden der bürgerlichen Gesellschaft aber nie verlassen hat.

Gerstenberger sagt dazu auf ihrer letzten Seite 675 (bevor der Apparat des Buchs sich auftut, der wohlwollenderweise schmal gehalten und kein Ausdruck akademischer Eitelkeit ist, wie sie allzu oft vorkommt):
Auf der Basis der hier vorgelegten Untersuchung ist eine Diskussion über Reformen, die über den Kapitalismus hinausreichen könnten, nicht angebracht. Solche Diskussionen verlangen die Auseinandersetzung mit den Grundstrukturen des Kapitalismus. Was hier diskutiert wurde, sind Auswüchse. Sie sind der Reform zugänglich. Die daraus abzuleitende Perspektive ist notwendig begrenzt.

Wenn es erlaubt ist, der Rezension dieses luziden Buches – denn luzid ist es – noch eine persönliche Bemerkung hinzuzufügen, dann die, dass ich nicht davon ausgehe, dass es sich um „Auswüchse“ handelt. Das verändert natürlich die Diskussion rund um Gerstenbergers großartiges historisches und zeitgeschichtliches Werk, ändert aber nichts an der Bedeutung des Buchs für den politischen, gesellschaftlichen und historischen Diskurs zu diesem Thema.


1 Mit religiöser bzw. wissenschaftlicher Formation verweise ich auf die Legitimationsweise und Art der Selbsterklärung der jeweiligen Gesellschaftsformation. Wenn auch heute noch Religion existiert, so hat sie doch ihre Erklärungskompetenz für Welt und Gesellschaft an die Wissenschaft abgetreten. Mit dem Verweis auf bürgerlich meine ich keine soziologische, standes- oder klassenmäßige Bestimmung, sondern eine Bestimmung nach den gesellschaftlich Handelnden; „bürgerlich“ bezieht sich also auf alle, die im Horizont des Kapitalismus und der subjektiven Unternehmung als Marktteilnehmer, Produzenten, Rechtssubjekte etc. handeln, ungeachtet ihrer Klassenzugehörigkeit. So könnte man vorbürgerlich, bezogen auf die religiöse Formation auch als "persönlich frei“ bezeichnen (oder „adelig“, wobei frei der bessere Ausdruck ist, denn er umfasst nicht nur den Adel, sondern auch Patriziertum, freie Bauern, Krieger, Söldner und Kaufleute etc.), denn gesellschaftlich Handelnde waren damals nur Freie.